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Interview: Glücksspieler*innen wird oft die Schuld an ihrer Situation gegeben

Interview: Glücksspieler*innen wird oft die Schuld an ihrer Situation gegeben

Wir haben mit Johannes Singer von der Universität Hohenheim gesprochen. Der Wissenschaftler forscht im Themenfeld „Stigmatisierung von Glücksspiel und glücksspielbezogenen Störungen in den sozialen Medien“.

Herr Singer, mal ganz allgemein gesprochen: Welchen Vorurteilen bzw. „Vor-Verurteilungen“ begegnen denn Menschen, die Glücksspiele spielen? Und wie werden Menschen gesehen, die die Kontrolle über ihren Umgang mit Glücksspielen verloren haben?

Zunächst möchte ich gerne kurz darauf eingehen, was Stigmatisierung ganz allgemein bedeutet. Wir sprechen von Stigmatisierung, wenn eine einzelne Person oder eine Gruppe von Menschen von der Norm der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wird. Ein bestimmtes Verhalten der Person bzw. der Personen wird als abweichend empfunden und mit negativen Attributen verbunden, woraus schließlich Stereotype entstehen können. Einfacher ist es, wie Sie es bereits in Ihrer Frage getan haben, von Vorurteilen zu sprechen. Jeder von uns kennt Vorurteile aus seinem Alltag. Beispiels-weise bin ich Forscher und spiele in meiner Freizeit gerne Videospiele, man könnte sagen, ich bin der Inbegriff eines „Nerds“. Da sind Vorurteile vorprogrammiert, wie mangelnde Körperhygiene oder fehlende soziale Kompetenzen.

Im Bereich Glücksspiel haben Studien gezeigt, dass auch Glückspieler*innen stigmatisiert werden. Auch wenn Spieler*innen mit einer glücksspielassoziierten Störung besonders mit Vorurteilen zu kämpfen haben, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass generell alle Glücksspieler*innen von Stig-matisierung betroffen sind. Den Betroffenen wird oftmals ein schwacher Wille oder fehlende Selbstkontrolle vorgeworfen. Außerdem wird ihnen die Schuld an ihrer Situation gegeben.

Neben der Belastung für die betroffenen Personen ist das Gefährliche an der Stigmatisierung von Glücksspiel die sogenannte Selbststigmatisierung. Bei diesem Prozess verinnerlichen die betroffe-nen Personen die vorherrschenden Stereotype. In einfacheren Worten: Sie glauben selbst daran und geben sich selbst die Schuld an ihrer Situation. Das ist deswegen so problematisch, weil die öffentliche Stigmatisierung und Selbststigmatisierung, neben den anderen psychologischen Belastungen die Betroffenen oftmals davon abhält, eine Behandlung bzw. Therapie in Anspruch zu nehmen.

Welche Rolle spielen dabei die Sozialen Medien?

Die Forschung im Bereich Stigmatisierung von Glücksspiel ist insgesamt relativ überschaubar und meinem Wissen nach hinsichtlich sozialer Medien im Grunde nicht vorhanden. Was jedoch auffällt, sind die Überschneidungen zwischen den Gruppen von Personen mit dem höchsten Anteil von glücksspielassoziierten Störungen und jenen mit der höchsten Nutzungsrate von sozialen Medien. Beide Gruppen sind recht jung. Statistiken zeigen zum Beispiel, dass Kinder und Jugendliche einerseits besonders stark von glücksspielbedingten Schäden betroffen sind, andererseits die aktivste Nutzer*innengruppe von sozialen Medien darstellen. Es ist anzunehmen, dass es auch in sozialen Medien zur Stigmatisierung von Glücksspielenden kommt. Um Kinder und Jugendliche, insbesonde-re jene mit einer glücksspielassoziierten Störung, vor Vorverurteilungen zu schützen und dazu zu bewegen, das eigene Spielverhalten kritisch zu hinterfragen und sich Hilfe zu suchen, ist es im Rahmen einer präventiven Gesundheitsvorsorge ratsam, gerade die Kanäle in den Blick zu nehmen, in welchen die Zielgruppe am aktivsten ist: Social Media.

An welchem Thema forschen Sie gerade und wie gehen Sie dabei vor?

In meiner aktuellen Forschung analysiere ich die Stigmatisierung von Glücksspielenden in den sozia-len Medien. Am Beispiel von Kommentaren auf der Videoplattform YouTube versuche ich herauszufinden, ob dort stigmatisierende Äußerungen vorkommen und, falls ja, wie die Nutzer*innen Vorurteile in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch in einem sozialen Netzwerk äußern. Zu diesem Zweck habe ich fast 12.000 Kommentare von zwei ausgewählten Videos mit einem Verfahren des maschinellen Lernens ausgewertet. Wir geben die gesammelten YouTube-Kommentare in unser Modell und ein Algorithmus ordnet alle Kommentare, die mit stigmatisierenden Äußerungen assoziiert werden können, in eine Kategorie ein. So können wir prüfen, ob und in welcher Häufigkeit Vorurteile betreffend Glücksspielenden und glücksspielassoziierten Störungen vorkommen. Zur Überprüfung habe ich die Ergebnisse zusätzlich manuell überprüft.

Es hat sich gezeigt, dass stigmatisierende Äußerungen gegenüber dem Glücksspiel und Spieler*innen mit einer glücksspielassoziierten Störung durchaus vorkommen. Neben persönlichen Beleidigungen, wie „Versager“ oder „Suchti“, wird den Betroffenen häufig vorgeworden, dass sie selbst an ihrer Situation schuld seien und gleichzeitig versuchen würden, diese „Schuld“ auf andere Personen abzuwälzen. Die Betroffenen sollten lernen, „endlich Eigenverantwortung“ zu übernehmen. Manchmal werden Suchterkrankungen auch relativiert, was sogar so weit geht, dass einige Nutzer*innen die Existenz von Suchterkrankungen in Gänze anzweifeln und nur als Ausrede von den Betroffenen sehen, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen.

Schließlich fanden wir auch selbststigmatisierende Äußerungen. Einige Nutzer*innen gaben an, selbst unter einer glücksspielbezogenen Störung zu leiden bzw. gelitten zu haben. Diese Personen äußerten die gleichen Vorurteile wie die anderen User*innen auch.

Was empfehlen Sie, um Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber Glücksspielenden abzubauen? Gibt es beispielsweise Begriffe oder Formulierungen, die Vorurteile eher verstärken und solche, die sie eher abbauen?

Für eine Entstigmatisierung von Glücksspielenden und glücksspielbezogenen Störungen und zur Verhinderung von Selbststigmatisierung, ist eine breitere öffentliche Aufklärung über die Entstehung und Dynamik von Suchterkrankungen notwendig. Behandlungsangebote sollten sichtbarer gemacht werden und den Betroffenen vermittelt werden, dass eine Genesung möglich ist. Sich in Behandlung zu begeben ist ein Zeichen der Stärke, kein Zeichen der Schwäche!

In unserem persönlichen Umgang ist es meiner Meinung nach entscheidend, dass wir Sucht als eine Krankheit anerkennen. Seit dem Jahr 2022 gilt auch die Glücksspielsucht als Suchterkrankung, wie beispielsweise auch die Alkoholsucht. Den Betroffenen Vorwürfe zu machen, hilft nicht. Sie machen schließlich auch niemandem Vorwürfe, der*die an einer anderen Krankheit leidet. Wichtig ist, dass sich die Betroffenen professionelle Hilfe bei den entsprechenden Beratungsstellen suchen. Im Alltag kann es ein Anfang sein, dass wir nicht mehr von „problematischen Spieler*innen“ sprechen, schließlich ist nicht die Person das Problem, sondern die Suchterkrankung.

Quellen:
Brown, K. L., & Russell, A. M. T. (2019). Exploration of Intervention Strategies to Reduce Public Stigma Associated with Gambling Disorder. Journal of gambling studies. doi:10.1007/s10899-019-09888-3.
Buth, S., Meyer, G., & Kalke, J. (2022). Glücksspielteilnahme und glücksspielbezogene Probleme in der Bevölkerung - Ergebnisse des Glücksspiel-Survey 2021. Hamburg. Accessed 22 March 2022.
Carroll, A., Rodgers, B., Davidson, T., & Sims, S. (2013). Stigma and Help-Seeking for Gambling Prob-lems.
Cunningham, J. A. (2005). Little use of treatment among problem gamblers. Psychiatric services (Washington, D.C.), 56, 1024–1025. doi:10.1176/appi.ps.56.8.1024-a.
Horch, J., & Hodgins, D. (2013). Stereotypes of problem gambling. Journal of Gambling Issues, 66, 1. doi:10.4309/jgi.2013.28.10.
Horch, J. D., & Hodgins, D. C. (2008). Public Stigma of Disordered Gambling: Social Distance, Dange-rousness, and Familiarity. Journal of Social and Clinical Psychology, 27, 505–528. doi:10.1521/jscp.2008.27.5.505.
Koch, W. (2022). Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2022: Reichweiten von Social-Media-Plattformen und Messengern. Media Perspektiven, 2022(10), 471–478.

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